René Viénet: Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68 „Überall muss das Unglück zurückgeschlagen werden“

Sachliteratur

Zur Neuherausgabe der deutschsprachigen Ausgabe von René Viénet, Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68 in der Edition AV.

Paris im Juli 1968.
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Paris im Juli 1968. Foto: Robert Schediwy (CC-BY-SA 3.0 cropped)

4. Juli 2023
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Ein Auszug aus dem aktuellen Vorwort:

Schnell! war eine der Parolen, die im Pariser Mai 1968 auf den Mauern auftauchten. Schnell ist auch dieses Buch erschienen. Das französische Manuskript wurde schon Ende Juli 1968 an den Verlag Gallimard übergeben. Es enthält eine genaue Schilderung der Ereignisse mit Schwerpunkt auf Paris und Umgebung (die Universitäten, die Fabriken und Unternehmen) und im Anhang Flugblätter und andere Dokumente. Es ist eine parteiliche Zusammenstellung, keine ausgewogene oder wissenschaftliche Darstellung. Die Texte geben die Unbedingtheit der Forderungen, die Direktheit der Gesten wieder und verströmen die empfundene Dringlichkeit des Projektes, seine ganze Heftigkeit.

In deutscher Übersetzung erschien das Buch 1977 in einer einmaligen Auflage in der Edition Nautilus (Übersetzung Pierre Gallissaires und Barbara Merkel) und war seit langem vergriffen. Für die neue Ausgabe konnte die damalige recht rohe Übersetzung bearbeitet und ein neues Vorwort beigesteuert werden.

Die Situationistische Internationale, deren Mitglied der Autor René Viénet seit 1966 war, hatte seit ihrer Gründung Mitte der fünfziger Jahre an einer "Neudefinition der Revolution" gearbeitet und diese Art einer autonomen Eruption ausserhalb der üblichen Institutionen der Arbeiterbewegung, wie sie im französischen Mai 68 hervorbrach, vorhergesehen. Die Situationisten waren also in gewisser Hinsicht vorbereitet und hatten ein Verständnis von dem, was sich abspielte. Sie hatten ein begriffliches Instrumentarium entwickelt und konnten so in die Unruhe, die sich ausbreitete, praktisch intervenieren.

Dass sich in Frankreich, anders als z.B. in Deutschland, diese Art des Denkens entfalten konnte, lag unter anderem auch an den unterschiedlichen Auswirkungen des gerade beendeten faschistischen Regimes. Während in Deutschland die revolutionären Erfahrungen der Klassenkämpfe durch die extreme Zäsur des Nationalsozialismus, den Angriffskrieg und die rassistische Vernichtungsmaschine abgewürgt waren und die Nachkriegsgeneration mit der Einhegung der grauenbeladenen Schuld beschäftigt war, hatte sich der antifaschistische Widerstand Frankreichs in den hegemonialen Vorstellungen der Résistance kondensiert. Diese Kommandovorstellungen der KPF mit ihrem Heldenpathos galt es nach Kriegsende zu demontieren und statt dessen die Bezüge zur Pariser Commune und zur Räteorganisation aufzufrischen und zu beleben, um zu neuen Aktionsformen und einer neuen Sicht auf die Gesellschaft und ihre Veränderung zu gelangen.

So hatten die Situationistischen im November 1966 eine "vorbereitende" Aktion unternommen, indem sie mit einigen Studenten der Universität Strassburg eine Broschüre in grosser Auflage publiziert und verteilt hatte, welche die Zurichtung der studentischen Ausbildung auf die kapitalistischen Verwertungsinteressen und das damit einhergehende Elend im Studentenmilieu offenlegte (Über das Elend im Studentenmilieu), das schnell etliche Störmanöver an den Universitäten ausgelöst hatte. Die Eskalation dieser Störungen führte von der Universität Nanterre aus zur Besetzung der Sorbonne, zur Öffnung der Universität für alle, zu Strassenkämpfen im Quartier Latin mit Errichtung von bis zu sechzig Barrikaden, zu Fabrikbesetzungen in ganz Frankreich. Die Chronologie ist in diesem Buch aufgezeichnet.

Schnell griff der Impuls des Widerstands auf alle möglichen Bereiche der Gesellschaft über, von den Student*innen und Arbeiter*innen zu den Fussballern, die ihren Sport von den Bossen zurückverlangten, zu den jungen Ärzten, die die Funktion der medizinischen Ausbildung und Versorgung der Menschen zu Diensten des kapitalistischen Funktionierens denunzierten, die Werbeleute, die die Abschaffung der Werbung forderten, die Angestellten des Medienkaufhauses FNAC, die ohne eigene Forderungen in den Streik traten, um ihre Solidarität kundzutun, die Menschen, die in den umkämpften Vierteln wohnten und freigiebig Essen, Wasser gegen das Tränengas und kurzzeitiges Asyl vor polizeilichen Verfolgungen boten.

Wir sind nichts, wir werden alles! ist die Parole, die eine "jugoslawische Genossin, die viel weiss", ihrem Text in diesem Buch voranstellte. Sie fordert "Gesten, die keine Bezahlung verlangen; die spontane Organisation in den Händen der Produzenten; die leidenschaftliche Organisation und die Grosszügigkeit als Komplizin ..." Das versteht sie unter der Macht der Arbeiterräte. Die Macht zerstören, ohne sie zu ergreifen, nennt sie "erlebte Poesie". "Die Revolution kann nur alltäglich sein, wenn man gegen die Faszination der Macht kämpft. Der Wunsch zu beherrschen, bleibt noch das Gesetz des Augenblicks, die Mentalität des befreiten Sklaven, der Schwindel des Gehorsams ... die Mystik der Institutionen und die Religion der Ordnung. ... Wir sind alle Herren oder wir sind nichts. Unter dieser Bedingung wird die Arbeit ein grosser Lachanfall oder alles. Es lebe die Macht der Arbeiterräte. Nieder mit der jugoslawischen Selbstverwaltung."

Es versteht sich von selbst, dass der neue Begriff von "Selbstverwaltung" nicht bedeutete, das Vorhandene oder hierarchisch Bestimmte selbst zu verwalten, sondern autonom zu entscheiden, was und wie gemeinsam verwaltet, oder eher organisiert, produziert, gelebt werden soll. Die generalisierte Selbstverwaltung bedeutete im Sprachgebrauch der Situationisten nichts weniger als die bewusste Bestimmung des gesamten Lebens durch alle, d.h. die geschichtliche Konstruktion der freien individuellen Beziehungen, in der die Räte die einheitliche und permanente individuelle und kollektive Emanzipation ermöglichen, indem sie das Imaginäre der Geschichte verwirklichen. Jeder revolutionäre Moment führt zur sofortigen Steigerung der Lebenslust, und aus jeder praktischen Aktion filtert sich die theoretische Verbesserung (und umgekehrt). Die Selbstverwaltung ist Mittel und Zweck des Kampfes, Form und Inhalt, sie ist die Materie, die sich selbst bearbeitet.

Lauf schneller, Genosse, die alte Welt ist hinter dir her!

Im französischen Mai 68 war die Bewegung der Besetzungen (mit 11 Millionen wild, d.h. spontan und ohne das Einverständnis und die Struktur von Gewerkschaften und linken Parteien streikenden Arbeiter*innen) das grösste revolutionäre Ereignis seit der Pariser Kommune. Es war der erste wilde Generalstreik der Geschichte, und in diesem Monat Mai bildeten sich erneut Strukturen der direkten Demokratie heraus (Vollversammlungen, jederzeit abrufbare Delegierte, Aktionskomitees, Besetzungskomitees). Die Staatsmacht wich in einem heute kaum mehr vorstellbaren Mass zurück. Dieser Nullpunkt der Macht dauerte nur einen kurzen Moment, dann vereinigten sich die Führungskräfte der Alten Welt zum Gegenschlag, und die Besetzungen wurden mit allen Mitteln aufgelöst: Versprechungen, Lügen, militär-polizeiliche Gewalt. Seit den weltweiten sozialen Infragestellungen der "Alten Welt" der späten sechziger Jahre verschärfte diese ihre Verteidigungslinien in Form von Kriegsmaschinen, die keinen Nullpunkt mehr zulassen sollen und die dabei sind, ihre Herrschaft auf den gesamten Menschen (physisch und mental) auszudehnen.

Die "Alte Welt", das war damals die Welt der Familie, der Religion, der Konventionen, die Identifizierung mit der gesellschaftlichen Rolle, die vorhandenen und verknöcherten Institutionen des Klassenkampfes. All das wurde im Moment des Aufstands über den Haufen geschmissen, mit grosser Wucht und wenig praktischen Erfahrungen, was sicher die Schwäche dieses Aufstands wie vieler anderen gescheiterten Aufstände ausmacht.

Was andererseits die Stärke dieses Aufstands (und vieler anderer ebenso) auszeichnet, ist das spontane Wissen, dass alle Entfremdungen zusammen und gemeinschaftlich abgelehnt werden müssen, dass keine Ideologie mehr Gültigkeit hat und dass alle alten Institutionen ausgedient haben. Das Verlangen nach direktem Dialog, nach dem freien Wort, nach echter Gemeinschaft schuf sich in den besetzten Gebäuden Raum, die verhasste entfremdete Arbeit wurde für wenige Wochen ersetzt durch das Spiel und das Fest und die praktische Solidarität. "Ein Hauch von Wahnsinn lag in der Luft", beschrieb Le Monde die Atmosphäre. Frauen und Männer, Franzosen und Menschen aus anderen Ländern kämpften spontan und gemeinschaftlich. Sie waren nicht mehr getrennt nach Hierarchien, Funktionen oder Rollen, sie kommunizierten in einer gemeinsamen Raum-Zeit. Die kapitalisierte Zeit stand still.

Wütende aller Länder, vereinigt euch!

Der Text René Viénets und die Dokumente im Anhang, ihr Ton (grossmäulig, zumeist männlich, heftig, ungezügelt etc.) und ihre Angriffslust mögen für viele eine Zumutung sein, damals wie heute. Sie zeigen uns heutigen Lesenden den Unterschied auf zum aktuellen Diskurs in einer "gezügelten" Sprache. Sie öffnen einen geschichtlichen Raum: So fing es an, hier stehen wir heute. Wir haben an Sensibilität gewonnen, an Achtsamkeit, an Vorsicht, Rücksichtnahme, Respekt vor Schwächen, Blick auf Diversitäten. Aber wir haben auch verloren, die Wertschätzung des Negativen als Kraft der Aufhebung, d.h. der echten Veränderung, das Bewusstsein über die Notwendigkeit des Bruchs, die Verweigerung und die klare Sicht auf unsere Einbindung in die Gesellschaft des Spektakels, in die Logik der Ware, auf welcher Stufe ihrer Hierarchie auch immer.

Das, was die Situationisten die "totale Emanzipation" nannten, die universelle und einheitliche Befreiung ohne jede Trennungen, ist fast gänzlich aus der Debatte verschwunden. Seitdem die "Überflussgesellschaft" durch den kapitalistischen globalen und totalen Extraktivismus zu einer Gesellschaft des Ausnahmezustands geworden ist, die ständig im Modus von Katastrophe, Krieg und Kollaps operiert, fordert die ideologische Zurichtung ein verstärktes Zusammenstehen, um die permanente Krise zu bewältigen. Wir sollen nun die Welt, wie sie ist oder wie sie vermeintlich einmal war, durch Verzicht und ständige Anpassung an die weiterentwickelten Ausbeutungsformen gemeinsam retten. Der damals so heftig vollzogene Bruch mit der "Alten Welt" der hierarchischen Ausbeutung kann uns noch einmal vor Augen führen, wie total oder auch totalitär die aktuellen Klassenverhältnisse auf die Menschen zugegriffen haben, wie weit sich das "Spektakuläre" von einer äusserlichen Entfremdung in den Menschen hineingefressen hat. So dass es heute noch klarer als damals ist, dass alles zusammenhängt und alles "total" und einheitlich, d.h. universell verändert werden muss.

Es ist kein Wunder, dass die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich 2018, genau sechzig Jahre nach dem Mai 68 und mitten in einem sich seit Jahren im Ausnahmezustand befindlichen Land, die Spur der "wilden Streiks" und der "wilden Demokratie", der wilden Organisations- und Aktionsformen wieder aufgenommen hat. Und dass sie wie ein Gespenst der Revolution wieder aufgetaucht ist, das die herrschende Klasse zu sofortiger und brutaler Bekämpfung durch ihre Anti-Aufstandseinheiten und durch permanente mediale Denunziation veranlasste. Die Schmach der staatlichen Schwäche im Mai 68 sollte sich nicht wiederholen. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass das, was im Mai 68 einen Monat angehalten hat, bei den Gelbwesten mehr als ein Jahr andauerte, und dass die Formen der Aktionen und Vernetzung erheblich weiterentwickelt wurden. So konnte in der Gegenwart die Vergangenheit verbessert und die Tür zum verdrängten Imaginären wieder einen Spalt geöffnet werden.

Da sich die Lebensverhältnisse im Modus von Krieg und Krise nicht verbessern lassen, sondern weiter verschlechtern werden, werden auch Verweigerung und Bruch wieder wichtige Impulse werden. Autonome Strukturen des Gemeinsamen zu finden, d.h. menschliche Sicherheit und Fürsorge, planetare Nachhaltigkeit, Gesundheit für alle, Freiheit der Vielen Verschiedenen, den globalen Schutz der menschlichen und ökologischen Singularitäten in einer Gesellschaft ohne Ausbeutung zu gestalten, das heisst, die "Bewegung des Kommunismus" als ein ständiges Werden anzugehen. Und vielleicht können die Unverschämtheit der Thesen dieses Buches, ihre Grossmäuligkeit und Frechheit uns heute, mit dem Abstand von sechzig Jahren, ein grosses Lachen schenken, das Lachen, von dem die jugoslawische Genossin, die viel weiss, sprach und das uns die Möglichkeiten einer Öffnung in eine gänzlich andere Welt aufzeigt, in unsere Autonomie und Selbstbestimmung jenseits der spektakulären Warengesellschaft.

Hanna Mittelstädt

René Viénet: Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68. Edition AV, Bodenburg 2023. 281 S., ca. 24.00 SFr., ISBN 978-3-86841-292-5.